Yoga ist eine sehr reiche Tradition, die ( so erzählt man sich, ohne wissenschaftlichen Nachweis) eine Geschichte von einigen Tausend Jahren hat. Anfänger fühlen sich angesichts der Weite und des Reichtums der Yogapraxis, -philosophie und -literatur schnell überfordert. Aber es gibt einige grundlegende Prinzipien, die, wenn man sie einmal verstanden hat, einen leichteren Zugang zu all den zahlreichen Aspekten des Yoga ermöglichen. Hier sind zehn solcher grundlegenden Prinzipien:
1. Die Lehre der Befreiung
Yoga wird traditionell als Befreiungslehre (moksha-shâstra) bezeichnet. Sie versucht, uns von unserer begrenzten Vorstellung zu befreien, wer wir sind. Wir identifizieren uns gewohnheitsmäßig mit unserem eigenen Körper, Geist, Besitz und unseren Beziehungen (die wir oft wie Besitz behandeln). Aber diese mental-emotionale Gewohnheit ist laut Yoga in Wirklichkeit eine tiefgreifende und schicksalhafte Fehlidentifikation. Sie hält uns in unseren Verhaltensmustern gefangen und führt dazu, dass wir immer wieder Leid (duhkha) erfahren.
Wer wir in Wahrheit sind, ist etwas oder jemand jenseits unseres besonderen Körpers, Geistes, Besitzes und unserer Beziehungen. Aus yogischer Sicht sind wir unsterbliches, überbewusstes Seiendes. Als dieses Seiende sind wir unbegrenzt und frei. Alle Lehren des Yoga zielen darauf ab, uns zu helfen, diese fundamentale Wahrheit zu erkennen.
2. Richtungen des Yoga
Da Menschen unterschiedliche Stärken und Schwächen haben, haben die Meister des Yoga verschiedene Ansätze entwickelt, so dass Yoga allen hilfreich sein kann. So gibt es verschiedene Ausrichtungen des Yoga, die bestimmten emotionalen und mentalen Fähigkeiten oder Vorlieben entsprechen. Im Allgemeinen werden sieben solcher Yogawege unterschieden:
Râja-Yoga: ist der "Königliche Yoga" mit dem Ziel der Befreiung durch Meditation, der für konzentrationsfähige Praktizierende gedacht ist - der achtfache Weg des Ashta-anga-yoga von Patanjali, auch "Klassischer Yoga" genannt.
Hatha Yoga: ist der "Kraftvolle Yoga", der auf Befreiung durch körperliche Transformation abzielt.
Nâna Yoga: ist die "Weisheit des Yoga" mit dem Ziel der Befreiung durch die stetige Anwendung einer höheren Weisheit, die klar zwischen dem Realen und dem Irrealen unterscheidet.
Karma Yoga: ist der "Yoga des Handelns", der auf Befreiung durch selbsttranszendierenden Dienst abzielt.
Bhakti Yoga: ist der "Yoga der Hingabe und Demut", der auf Befreiung durch Selbsthingabe im Angesicht des Göttlichen abzielt.
Tantra Yoga: ist der "Kontinuitäts-Yoga", der auf Befreiung durch Rituale, Visualisierungen, subtile Energiearbeit und die Wahrnehmung der Identität (oder Kontinuität des Bewusstseins) der gewöhnlichen Welt und der transzendentalen Realität ausgerichtet ist.
Mantra Yoga: ist der "Yoga des mächtigen Klanges", der auf Befreiung durch die Rezitation (laut oder mental) von tief wirkenden Klängen, so genannten Bija-Mantren (wie om, hûm, ram, ham, Krishna, etc.) gerichtet ist - oft als ein Aspekt des Tantra-Yoga betrachtet.
Diese sieben Yogawege sind alternative Wege in die Geheimnisse des Yoga und damit in unser eigenes Bewusstsein.
3. Dharma
Alle Zweige und Formen des Yoga haben als Grundlage ein gesundes moralisches Leben. Ein solches Leben wird durch das Prinzip des Dharma geleitet, das "Moral", "Gesetz", "Ordnung" und "Tugend" bedeutet. Es steht für moralische Tugenden wie Nicht-Verletzen (Ahimsâ), Wahrhaftigkeit (Satya), Enthaltung vom Diebstahl (Asteya), Keuschheit (Brahmacharya), Mitgefühl (Karunâ) und Güte (Maitrî).
Ohne eine feste Verankerung in diesen moralischen Prinzipien kann Yoga uns nicht zu seinem letztendlichen Ziel der Befreiung führen. Solange wir einen Lebensstil verfolgen, der diesen moralischen Tugenden nicht gerecht wird, sind unsere Energien zerstreut, und wir ernten weiterhin die negativen Auswirkungen unserer Handlungen. Ein moralisch gesundes Leben erlaubt uns jedoch, die Erzeugung negativer Auswirkungen zu stoppen und unsere Energien wie einen Laserstrahl zu bündeln, so dass wir unsere wahre Natur vollständig entdecken oder erkennen können.
4. Stete Ausübung von Theorie UND Praxis
Yoga ist ein Kontinuum aus Theorie und Praxis. Das heißt, Yoga ist weder eine bloße Sesselphilosophie, noch ist es nur eine bloße Übungsreihe. Um Yoga richtig und erfolgreich zu betreiben, muss man die den praktischen Disziplinen zugrunde liegenden Ideen gebührend berücksichtigen und umgekehrt die Übungen und Techniken, aus denen seine Theorien bestehen. Dies erfordert eine durchdachte und achtsame Praxis. Zum Beispiel wird uns die regelmäßige und korrekte Ausübung der yogischen Haltungen zweifellos helfen, eine gute körperliche Gesundheit zu erhalten.
Um jedoch ihr tieferes Potenzial zu erschließen, müssen wir sie als nur einen kleinen Aspekt des integrierten Ansatzes des Yoga zur spirituellen Befreiung verstehen. In ähnlicher Weise bringt die Meditation das Nervensystem definitiv ins Gleichgewicht und beruhigt den Geist. Doch erst wenn wir - dank der yogischen Theorien - die Natur des Geistes verstehen, können wir hoffen, die inhärenten Begrenzungen unseres geistigen Make-ups zu überwinden und das transzendentale Bewusstsein zu entdecken. Aus diesem Grund wird das Studium (svâdhyâya) von den meisten Yogaschulen sehr geschätzt; es ergänzt die ständige Anwendung in den praktischen Disziplinen.
5. Verpflichtung zur Selbsttransformation
Wie einfach ein bestimmter yogischer Ansatz auch immer sein mag, alle Ansätze erfordern ein tiefes Engagement für die Selbsttransformation. Wenn wir Angst vor Veränderung haben und dazu neigen, an unseren eingefahrenen Wegen festzuhalten, können wir im Yoga keinen Erfolg haben. Die Praxis des Yoga erfordert eine enorme persönliche Anstrengung (vyâyama), die Selbstdisziplin (âtma-nigraha) erfordert. Wenn wir uns bemühen, unerwünschte Gewohnheitsmuster durch positive zu ersetzen, erleben wir unweigerlich ein gewisses Maß an Frustration. Diese Frustration ist jedoch eher kreativ als selbstzerstörerisch. Das Sanskritwort für diesen Prozess ist tapas und bedeutet "Glühen" oder "Hitze". Der Begriff steht auch für "Askese", die auf Selbstbeherrschung beruht.
6. Physische und mentale Techniken
Yoga umfasst zahlreiche Techniken - sowohl körperliche als auch geistige. Diese können auf zwei Hauptkategorien reduziert werden: abhyâsa und vairâgya. Abhyâsa ist die wiederholte Ausführung von Übungen oder Techniken, die einen positiven Geisteszustand in uns erzeugen sollen. Vairâgya ist die ergänzende Praxis des Loslassens alter Verhaltensmuster oder Bindungen. Abhyâsa enthüllt uns allmählich die tieferen, verborgenen Aspekte des Geistes, während Vairâgya uns Schritt für Schritt über den Schein hinaus und in die Wirklichkeit führt.
7. Ein yogischer Lebensstil
Je näher wir der Selbstverwirklichung kommen, desto gewöhnlicher werden wir. Nur diejenigen, die nach der Befreiung streben, als wäre sie eine Trophäe, verherrlichen den yogischen Prozess und sich selbst. Sie wollen außergewöhnlich sein, während befreite Wesen vollkommen gewöhnlich sind. Sie sind so glücklich beim Abwasch, wie sie still in der Meditation sitzen oder ihre Teilnehmer*innen unterrichten. Aus diesem Grund hat Yoga von Anfang an nicht nur den Weg des weltabwerfenden Asketen (sannyâsin), sondern auch den des weltabwerfenden Haushälters (grihastha) gefeiert, der die Möglichkeiten des täglichen Lebens nutzt, um die Tugenden eines yogischen Lebensstils zu praktizieren.
8. Die Energie des Bewusstseins
In jeder Yogapraxis gibt es ein Element der Gnade (prasâda), das nicht vorhersehbar ist. In den theistischen Yogaschulen wird dies als die Gnade des göttlichen Wesens erklärt; in nicht-theistischen Schulen wie dem Jaina-Yoga oder bestimmten Schulen des buddhistischen Yoga wird gesagt, dass sie von befreiten Wesen (genannt Arhats, Buddhas oder Mahâ-Siddhas) ausgeht. Lehrer sind Kanäle von wohlwollenden Energien oder Segnungen, die ihre Teilnehmer*innen reifen lassen sollen. Der Prozess, durch den ein/e Lehrende/r Teilnehmer*innen segnet, wird "Übertragung" (samcâra) genannt. In einigen Schulen ist er als shakti-pâta bekannt, was "Herabsteigen der Kraft" bedeutet. Die betreffende Kraft ist die Energie des Bewusstseins selbst.
9. Einweihung durch eine/n Yogalehrer/in
Alles Yoga ist initiativ. Das heißt, die Einweihung (dîkshâ) durch eine7n qualifizierte/n Lehrer/in ist wesentlich für den letztendlichen Erfolg im Yoga. Es ist möglich, auch ohne Initiation von vielen yogischen Praktiken zu profitieren. Daher können die meisten Übungen des Hatha-Yoga - von den Körperhaltungen über die Atemkontrolle bis hin zur Meditation - erfolgreich alleine praktiziert werden, vorausgesetzt, man hat das richtige Format gelernt. Aber für die höheren Stufen des Yoga ist eine Ermächtigung durch Initiation definitiv notwendig. Die Gewohnheitsmuster des Geistes sind zu tief verwurzelt, als dass wir ohne das wohlwollende Eingreifen eines Yogameisters tief greifende Veränderungen vornehmen könnten. Alle yogischen Praktiken können sinnvollerweise als Vorbereitung auf diesen Moment betrachtet werden.
10. Seien Sie geduldig
Yoga ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem unsere unbewussten Denk- und Verhaltensmuster durch neue, wohlwollendere Muster ersetzt werden, die die höheren Mächte und Tugenden der Selbstverwirklichung zum Ausdruck bringen. Es braucht Zeit, um dieses weitreichende Werk der Selbsttransformation zu vollenden, und deshalb dürfen Yogapraktizierende zuallererst Geduld üben.
Erleuchtung oder Befreiung wird nicht in wenigen Tagen, Wochen oder Monaten verwirklicht. Wir müssen bereit sein, uns ein ganzes Leben lang der yogischen Praxis zu widmen. Es braucht einen grundlegenden Impuls zum Wachstum, unabhängig davon, ob wir in diesem Leben Befreiung erlangen werden oder nicht. Es ist eine der grundlegenden Lehren des Yoga, dass keine Anstrengung jemals verschwendet ist; selbst der geringste Versuch, uns zu transformieren, macht einen Unterschied. Es ist unsere geduldige, kumulative Anstrengung, die früher oder später in Selbstverwirklichung mündet.
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